Ein grosses Thema der Alexandertechnik ist die Schulung der Wahrnehmung. Doch was heisst das überhaupt? Und was soll es mir bringen? Ich habe festgestellt dass das Thema Wahrnehmung für viele sehr abstrakt ist, darum möchte ich hier etwas in die Tiefe gehen.
In der Welt der Alexandertechnik trifft man ungewöhnlich viele Musiker und Reiter an. Als Reiterin, bin auch ich durch die Pferde zur Alexandertechnik gekommen. Pferde sind viel feinfühliger als Menschen gewöhnlicherweise sind. Kleine Veränderungen beim Reiter können viel beim Pferd bewirken. So habe ich schon vor der Alexandertechnik gelernt wie wichtig es ist einen guten Sitz auf dem Pferd zu haben. Doch das ist noch lange nicht alles. Pferde reagieren auch auf den Menschen wenn dieser nur neben ihm steht. Nicht immer sehen die Reiter, was sie im Pferd auslösen und sehen damit auch nicht, dass sie die Ursache für gewisse Probleme sind. Es wird am Pferd herumkorrigiert, was natürlich nicht fair ist. Ist man aber bereit das so anzunehmen und an sich selber zu arbeiten, kann man das Pferd und seine Reaktion als Spiegel sehen für das, was in einem los ist. Und ganz ehrlich dieser Weg mit den Pferden ist kein einfacher. Viele male bin ich fast verzweifelt, weil ich gesehen habe dass ich etwas auslöse und gleichzeitig nicht wusste wie ich das auslöse oder wie ich das vermeiden kann. Diesen Weg anzunehmen und zu gehen fordert Selbstreflexion und Arbeit an sich selber, Veränderungen sind oftmals nötig. Musiker erleben es oftmals ähnlich, ein Instrument oder die Stimme geben einem auch ein sehr klares Feedback. Auch auf der zwischenmenlichen Ebene passiert das selbe, nur sind da die Reaktionen öfters verschwommener und vielschichtiger, was es schwieriger macht damit zu arbeiten.
Hat für mich ursprünglich alles mit den Pferden angefangen, begann ich den Wert der Alexandertechnik für mich selbst zu erkennen. Ich glaube ohne die Pferde wäre es schwierig gewesen für mich, das Ausmass und den Wert zu sehen. Zumindest am Anfang.
Unser Körper ist der Zugang zur Wahrnehmung. Die Aufnahme der Umgebung durch die Sinnesorgane, wie das Sehen mit den Augen, das Riechen mit der Nase, das Tasten mit der Haut, das Hören mit den Ohren oder das Schmecken mit der Zunge, ist für die meisten noch sehr naheliegend. Die Reaktion unseres Nervensystems, unserer Körperhaltung oder der Muskelspannung, ist für viele schon viel weiter weg. Jede Emotion löst etwas in unserem Körper aus, wie wir uns in unserem Körper fühlen, verrät uns in welcher Emotion wir sind und wie es uns geht. Nicht jeder Mensch spürt seinen Körper gleich gut. Es gibt viele Menschen die haben tatsächlich Schwierigkeiten ihren Körper zu fühlen. Steht man unter Stress, ist es schwierig noch mehr zu fühlen als nur Stress und häufig Schmerz. Das hat eine direkte Auswirkung auf unsere Fähigkeit der Wahrnehmung. Um auf dieser Ebene wahrnehmen zu können, ist es wichtig, dass man einen Kontakt zu seinem Körper hat. Ist man nur in seinem Kopf, wird man nicht viel fühlen können.
Grundsätzlich ist die Wahrnehmung nötig um die Welt klar zu sehen. Oder zumindest klarer. Doch auch diese Aussage ist schwierig, denn wie viele Menschen haben sich noch nie in Frage gestellt, ob sie die Welt klar sehen. Auch diese Frage ist für viele Menschen sehr abstrakt. Vieles was die Alexandertechnik zu offerieren hat, gehört in den Bereich des "nicht wissen, dass ich es nicht weiss". Und wenn ich nicht weiss, dass da noch etwas ist, dass ich nicht weiss, werde ich das nicht mal in Frage stellen. Vorallem dann nicht, wenn die Dinge noch relativ gut funktionieren. Probleme öffnen häufig unseren Horizont!
Ich möchte hier ein sehr praktisches Beispiel machen, um klarer zu machen was ich meine. Eine Person hat Schmerzen im Knie. Sie geht zum Arzt, der kann jedoch nichts finden. Es scheint soweit strukturell alles ok zu sein, dennoch hat diese Person immer wieder Schmerzen. Aus meiner Sicht als Alexandertechniklehrerin, sehe ich ein Bewegungsmuster, dass das Knie belastet. Es ist kein besonders auffälliges Bewegungsmuster und doch hat es so starke Auswirkungen, dass es regelmässig Schmerzen verursacht und mit der Zeit würde es auch zu körperlichen Schäden führen. Kann ich den Klienten auf dieses Muster aufmerksam machen und damit seine Wahrnehmung schulen, hat er plötzlich die Möglichkeit dieses Bewegungsmuster zu verändern und somit auch die Belastung auf das Knie. Von da an, kann er mit dem Schmerz arbeiten, den Schmerz als Erinnerung ansehen, dass er dem Knie (und dem ganzen Körper) mehr Achtsamkeit entgegenbringen muss.
Dieser Schritt ist zwar sehr effektiv, löst aber in vielen Menschen Widerstände aus. Es lag eine Freiheit darin, einfach tun und lassen zu können was man will, ohne Konsequenzen zu spüren. Und jetzt plötzlich ist da dieses Knie, das immer wieder reklamiert und einfordert etwas nicht zu machen, oder anders zu machen. Das anzunehmen ist nicht einfach und für viele ein Prozess. Zu Beginn kann es sich anfühlen als wäre es ein Verlust von Freiheit. Man ist zur Rücksichtnahme gezwungen, wenn man das Ergebnis verändern will.
Oftmals wissen wir auch, dass etwas langfristig Konsequenzen hat, und dennoch überwiegt der kurzfristige Benefit. Da die Wahrnehmung zu schulen, würde dazu führen, dass wir uns schuldiger fühlen, wenn wir weiterhin mit dieser Tätigkeit fortfahren. Es ist nicht immer einfach, ungesunde Gewohnheiten loszulassen. Und es gibt viele Dinge in unserem Leben, die einen positiven und einen negativen Aspekt gleichzeitig haben. Was dazu führt, dass viele Menschen die Augen vor gewissen Dingen verschliessen. Manchmal weil es einfach bequemer ist, manchmal aber auch aus Machtlosigkeit, weil es sich unabwendbar oder unveränderbar anfühlt.
Du siehst, das Thema Wahrnehmung ist sehr komplex und geht sehr tief. Es geht nicht nur um ein Bewegungsmuster das wir verändern, um keine Schmerzen zu haben. Es geht darum wie wir unser Leben führen, was für eine Zukunft wir uns gestalten. Es geht darum ob wir passiv oder aktiv dem Leben entgegen treten. Ob wir die Augen verschliessen wollen oder ob wir hinsehen wollen. Ob wir bereit sind negative Gefühle zu fühlen, ob wir bereit sind zu fühlen, wenn wir Schaden anrichten.
Oberflächlich gesehen, ist es einfach zu sagen, dass die Schulung der Wahrnehmung sinnvoll ist. Doch wenn man tatsächlich hinschaut wie weitreichend das Thema ist, ist es verständlich, warum da viele Widerstände warten. Die Schulung der Wahrnehmung ist eine sehr spannende Reise, mit vielen positiven Auswirkungen. Und keine Konsequenz lässt sich für immer vermeiden. Das verschliessen der Augen kann Dinge etwas aufschieben, doch irgendwann wird die Realität zuschlagen.
Die Alexandertechnik und die Schulung der Wahrnehmung, ist nicht nur zur Vermeidung von Problemen da, sie ist genau so dazu da Potential zu entfalten! Mehr wahrzunehmen, lässt einem auch mehr Wege und Möglichkeiten sehen, die Kreativität und die Resilienz können sich entwickeln. Sie verbessert die Beziehung zum eigenen Körper und öffnet den Zugang zur Sprache des Körpers und damit auch zu seiner Weisheit.
"Gewohnheiten betreffen nicht nur Handlungen und Neigungen. Auch die Wahrnehmung ist von Gewohnheiten geprägt."
«Das, was sich unserer Aufmerksamkeit am meisten entzieht, ist das Allernächste, das Vertraute, das, was sich immer gleich bleibt. Und dieses Allernächste sind wir selbst, unsere eigenen Gewohnheiten, unsere Verhaltensweisen …»